„Ganz viele Dinge sind mit Seheinschränkung möglich“

Dr. Eva Maria Glofke-Schulz ist vor vielen Jahren aufgrund der Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa (RP) erblindet. Seit 30 Jahren arbeitet sie als Psychotherapeutin in ihrer eigenen Praxis und hat unter anderem Patientinnen und Patienten, die mit einer Netzhauterkrankung leben. In diesem Interview erläutert sie, wie man die eigene Einstellung ändern kann, um mit der Diagnose besser zurechtzukommen. Dr. Glofke-Schulz lebt mit Ihrem Mann, Führhund Max und gastweise Führhund-"Azubine" Cleo in Süddeutschland.

 

Erschienen am 11.04.2024

Frau Glofke-Schulz geht mit ihren beiden Hunden spazieren

Wenn die Diagnose gestellt ist, können sich viele Betroffene gar nicht vorstellen, was sie in den nächsten Jahren erwartet. Wo können Sie sich mit Ihren Fragen hinwenden?

Gerade wenn ein Mensch auf sich alleine gestellt ist, würde ich mir wünschen, dass die Ärztin oder der Arzt auf entsprechende Selbsthilfeangebote hinweist. Das Ärzteteam oder die Klinik ist ja die erste Anlaufstelle für die Betroffenen. Es gibt viele Hilfsangebote, angefangen bei Beratungsstellen für psychische Gesundheit, aber auch Blindenverbände oder Patientenverbände wie PRO RETINA Deutschland e.V., wo es umfassende Beratung für die Betroffenen gibt.

augenblicke MEIN SERVICE – Das Telefon mit Herz

Mit der Diagnose von nAMD (feuchte AMD) oder DMÖ kommt bei vielen Menschen die Angst, langsam zu erblinden. Hinzu kommt oft ein Gefühl der Hilflosigkeit oder Unsicherheit. Damit sind Sie nicht allein. Unser Beratungsteam hört zu, macht Mut und unterstützt Sie und Ihre Angehörigen in Ihrem Alltag und während der Therapie. Wir sind für Sie da – kompetent und herzlich!

Rufen Sie an: Montag bis Freitag, 9-18 Uhr unter
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Wie kann es gelingen, den Lebensmut zu behalten und weiter aktiv am sozialen Leben teilzunehmen?

Wir haben die Praxis in unserem Wohnhaus und die Leute ziehen unten ihre Schuhe aus. Manchmal erkenne ich, dass sich jemand völlig hilflos fühlt, sich aber die Schuhe binden kann. Dazu muss man nicht sehen können. Dann kann ich der Person Mut machen und verdeutlichen, dass es viele Dinge gibt, die auch mit Seheinschränkung möglich sind - und da gibt es viel mehr als Schuhe binden. Ich empfehle auch manchmal ein Dankbarkeitstagebuch – einfach jeden Abend mal drei Dinge aufschreiben oder sich aufs Handy sprechen, je nachdem, was man nutzen kann.

 

„Fallen Ihnen heute drei Dinge ein, die schön waren?“

Vielleicht hat beim Öffnen des Fensters ein Vogel gezwitschert, vielleicht hat das Frühstück doch gut geschmeckt, vielleicht hat doch der Kaffee ein gutes Aroma, vielleicht hat doch eine Freundin angerufen und man hatte ein nettes Gespräch. Vielleicht habe ich den Weg zum Bäcker selbstständig bewältigt. Es geht dann um Achtsamkeit für diese Dinge, die das Gefühl von Hilflosigkeit zum Wackeln bringen könnten.

Wie wichtig ist es, weiter aktiv zu bleiben?

Sehr wichtig. Es können Partnerschaften oder Freundschaften zu Bruch gehen, weil man eben mit einer Netzhauterkrankung zum Beispiel nicht mehr uneingeschränkt ins Kino gehen kann. Wenn jemand sagt: „Ich kann jetzt nicht mehr fotografieren, ich war doch jahrelang im Foto-Club“, dann muss er oder sie das auch betrauern dürfen. Aber vielleicht gibt es Dinge, wo man sich kreativ betätigen kann, wo man nicht so viel sehen muss und womit man unter die Leute kommt. Da fällt den meisten erst einmal nichts ein. Ich selbst singe im Chor und stehe auf der Bühne. Aber das ist natürlich nicht für jeden was.

Für jeden lässt sich aber etwas finden – im kreativen Bereich, im Sport oder wo immer.

nAMD und DMÖ: Mit Vorurteilen aufräumen

 

Wie können Verwandte oder der Freundeskreis aktiv zur mentalen Gesundheit der Betroffenen beitragen?

Sie müssen selbst erst einmal begreifen, dass die Partnerin, der Partner, der Sohn, die Tochter, die Tante oder ein anderer nahestehender Mensch jetzt mit dieser Erkrankung klarkommen muss. Angehörige sollten sich auch selbst hinterfragen, wie sie zu dieser Erkrankung stehen. Angehörige und Freundeskreis haben schon die Aufgabe, die Trauer um den Sehverlust mitzutragen und nicht weg zu diskutieren. Aber viele merken gar nicht, wenn sie selbst dabei völlig ausbrennen. Oder sich auf eine Weise verhalten, die nicht weiterhilft.

 

Es ist auch gesund, wenn Angehörige mal sagen: „Nimm das Messer in die eine Hand, das Brot in die andere, probiere es doch mal selbst.“

In einem ihrer Bücher geht es auch um Stigmatisierung von Menschen mit Sehbehinderungen – welche häufigen Vorurteile gibt es in der Gesellschaft?

Jeder Mensch hat gewisse stereotype Vorstellungen über Blindheit. Es ist immer noch verbreitet, Blindheit für das Schlimmste Übel zu halten. In dem Moment, wo ich jemanden begleite, der von Erblindung bedroht oder erblindet ist, muss ich mir auch klarmachen, dass  er möglicherweise die gleichen Stereotypen teilt – er gehörte ja vorher zu den Sehenden.

Und wenn ich nicht mit diesen Stereotypen aufräume oder frage: „Als Sie noch gar nicht mit der Diagnose konfrontiert waren, was haben sie gedacht und gefühlt, wenn sie einen Blinden auf der Straße gesehen haben? – dann wendet dieser Mensch diese Überzeugungen jetzt auf sich selbst an.

Wie kann man diese Überzeugungen verändern?

Ich kann meine Überzeugungen nur ändern, wenn ich sie verstehe. Das ist natürlich ein Prozess. Die Psychotherapie gibt ja keine Antworten, Psychotherapie stellt Fragen. Und wenn ich meine Arbeit gut mache und Glück habe, dann stelle ich vielleicht hin und wieder die richtigen Fragen.

Inhaltlich geprüft: M-DE-00021038